Frau Thater wurde 1936 in Schwarzenbek geboren. Ihre Eltern führten einen Friseursalon mit Parfümerie im eigenen Haus, in dem auch die angestellten Friseure wohnten. Gleich zu Kriegsbeginn wurde der Vater, der begeisterter Hobbyflieger war, zur Luftwaffe eingezogen.
Im April 1945 war unser Vater gerade für ein paar Tage auf Fronturlaub zu Hause, um wieder den Laden zu starten, als die Engländer bei uns reinkamen, mit fünf Mann, mit MP. Oh mein Gott, mein Vater noch in Pilotenuniform, den haben sie sich gleich geschnappt, das war der Erste. Tja, er war Offizier, ihn hatten sie natürlich auf dem Kieker. Da haben wir gedacht, na ja, das war‘s dann. Wir wussten erst gar nicht, wo er hinkam. Später brachten uns die Kinder, die draußen spielten, einen Zettel. Die gefangenen Soldaten wurden mit LKWs weggebracht, und da haben sie von da Zettel mit Nachrichten für ihre Angehörigen abgeworfen.
Als die Engländer dann mit den Panzern kamen, waren wir dran. Unser Haus wurde beschossen. Wir hatten Hundertzwanzig Einschüsse, und dann fing das Haus oben an zu brennen. Wir mussten raus aus dem Keller, und als meine Mutter das Feuer sah, ging sie mit einer weißen Fahne zu dem Panzermajor der Engländer, das war ein Holländer, der Deutsch konnte, und fragte ihn, warum sie auf unser Haus schießen. Er sagte, dass aus unserem Haus auf die Engländer geschossen wird. Aber da war kein Mensch, die ausgebombten Familien und wir waren die einzigen. Es stellte sich heraus, dass sich ein Hitlerjunge versteckt hatte, 16 Jahre alt, der von der Hausecke aus mit der Panzerfaust auf die Engländer schoss. Den haben sie erwischt und dann auch gleich „erledigt“. Vor unseren Augen. Ooh, schrecklich! Die Engländer wunderten sich selbst, als die gefangengenommenen Jungs vor ihnen standen, wie jung die noch waren. Diese Hitlerjungen waren fanatisch, die waren total verrückt. Die konnten gar nicht begreifen, dass es nachher hieß, aufgeben, wir haben keine Chance mehr.
Hinter dem Haus lagen erschossene deutsche Soldaten, da mussten wir vorbei, und dann haben wir erst mal im Bunker gesessen, bis wir wieder raus durften. Meine Mutter fing inzwischen an zu löschen, ihr Haus sollte nicht abbrennen. Aber die Engländer hatten ja fast alles zerschossen, darum war auch die Pumpe kaputt, da stand überall das Wasser. Aber dann halfen sie beim Löschen. Meine Mutter hat die ganzen Holzfußböden rausgehauen und so das Feuer gestoppt. Unser Haus ist also nicht abgebrannt.
Unser Haus wurde dann zwölf Stunden zum Plündern freigegeben. Das war heftig, was da ein und aus ging. Das ganze Warenlager haben sie geräumt. Die Russen und Polen durften zwar auch plündern bei uns, aber als sie in den Keller kamen zu uns Kindern und auch unsere Klamotten haben wollten, gingen die Engländer dazwischen und sagten: „Stop, no, nicht die Kinder.“ Und jagten sie raus. Das war auch schlimm. Die Erwachsenen mussten ihre Sachen hergeben, vor allem Pelzmäntel, darauf waren auch die Engländer scharf. Eine von den Hamburger Frauen hatte einen, den haben sie ihr gleich abgenommen, die drei Pelzmäntel meiner Mutter haben sie sich auch gleich gekrallt. Unseren ganzen Familienschmuck aber haben sie nicht gefunden, den hatte mein Vater im Silo vergraben. Oben haben die Polen im ganzen Haus alles leer gemacht, nur die Möbel nicht. Besonders für meine Mutter war das schlimm, sie war machtlos und musste zusehen.
Unser Haus wurde dann von den Engländern beschlagnahmt, und wir durften schön im Keller bleiben. Wir durften nicht ins Haus, sondern lebten mit den ausgebombten Hamburgern im Keller. Das waren außer uns noch drei Familien mit sechs Kindern. Der Keller war Gott sei Dank ziemlich groß, und wir konnten dort kochen, wo früher die Wäsche gewaschen wurde.
Mein Vater kam in Gefangenschaft nach Lauenburg. Da war er ein Jahr. Meine Mutter lief zusammen mit einer Frau aus Schwarzenbek zu Fuß nach Lauenburg, das sind hin und zurück ungefähr sechzig Kilometer, um ihn drei Minuten zu sprechen, mehr durfte sie nicht.
Und dann wurde mein Mann von der Bundeswehr zu einem Lehrgang in die USA geschickt, fünfzehn Monate von 1968 bis 1969, mit der ganzen Familie. … Dann flog mein Mann vor, er war die ersten sechs Wochen allein in Texas stationiert. Ich bin im April mit den Kindern in einer Bundeswehrmaschine hinterhergeflogen, direkt Köln – Texas ohne Zwischenstopp. Das waren ja noch keine Düsenflieger, das dauerte also.
… wir sind dann mit dem Greyhound-Bus 48 Stunden weitergefahren zu meiner Schwägerin, der Schwester meines Mannes, nach Salt Lake City. … Wir sind Tag und Nacht gefahren, durch Schnee, Regen und Hitze. Der Bus war einigermaßen bequem, man konnte da auch schlafen. Alle vier Stunden wurde der Bus gereinigt und der Fahrer gewechselt. Da sind auch schon mal Polizisten mit Gefangenen in Ketten mitgefahren. Für mich war das heftig, meine Kinder haben das gar nicht mitgekriegt. … Nach etwa vier Wochen kam dann mein Mann zu uns, und es ging weiter nach Denver, Colorado, zur Base der Airforce, dieses Mal mit dem Auto. Meine Schwägerin hat uns eines geliehen für die Zeit in den USA, einen riesigen Oldsmobile, pinkfarben, mit 320 PS!
Das war ja nun eine ganz andere Welt. Wir wohnten in einer normalen Etagen-Wohnung. Aber alles war ganz anders. Allein die Küche, die hat mich umgehauen. Das kannte ich überhaupt nicht. Alles ist oben, auch die Mikrowelle, die gab’s in Deutschland noch gar nicht. Nur auf Knöpfchen gedrückt, dann ging alles automatisch hoch oder runter. Für uns Frauen war das wie Urlaub.
Für uns war‘s eine riesige Umstellung. Das erste, was ich gemacht habe, war Fensterputzen. Denn durch die Fenster konntest du nicht mehr durchgucken. Also hab ich die Fliegengitter abgenommen, in die Badewanne rein. Da haben die Amis gesagt: „Aha, die Deutschen sind da.“ … Wir haben auch unsere Kinder zu Fuß von der Schule abgeholt, die Amis dagegen fuhren einmal um die Ecke mit dem Auto, die gingen nicht zu Fuß. Da hieß es dann: „Ja, die Deutschen, die gehen auch zu Fuß ihre Kinder abholen.“
Mein Mann hatte vormittags Lehrgang zusammen mit den Amis und nachmittags frei. Dann haben wir Touren gemacht, sind losgefahren in die schönen Naturparks rundherum. Das war bombastisch für uns, weil wir sowas gar nicht kannten. USA war und ist bis heute immer ein Erlebnis.
Unsere Kinder, damals 8 und 9 Jahre alt, gingen in die amerikanische Schule. Sie wurden auch gleich auseinandergesetzt, damit sie so schnell wie möglich englisch sprechen lernen. Das ging bei den beiden auch ganz schnell. Nach einem halben Jahr waren sie perfekt, in der Schule sprachen sie reines Englisch, aber draußen Slang genau wie die Amis. Zu Hause haben wir natürlich Deutsch gesprochen. Als dann die nächsten Deutschen ein halbes Jahr später kamen, haben die gefragt: „Welches sind denn eure Kinder? Die sprechen ja schon total amerikanisch.“ Man konnte sie gar nicht mehr unterscheiden. Wir Erwachsenen hatten es schwerer mit unsrem bisschen Schulenglisch, das war nicht doll.
Bei der Airforce gab es auch einige Afroamerikaner. Einer hat sich speziell um die deutschen Männer und ihre Familien gekümmert. Er hat alles organisiert, sämtliche Ausflüge. Wir wurden auch von amerikanischen Familien eingeladen. Das war schon ein Erlebnis. Die Amis sind ja sehr offen, das kannten wir so gar nicht. Wir waren zwar immer „die Deutschen“, aber wir wurden richtig hofiert. Von der Airforce wurden wir zu allen Feierlichkeiten eingeladen: zur Vereidigung der jungen Soldaten, zum Empfang der Särge mit den Gefallenen aus Vietnam, eine große Zeremonie, dann auch zur Beerdigung nach Arlington, das haben sie alles für uns organisiert. Auch die methodistische Kirche hat viel für uns veranstaltet.
Unter uns wohnte eine afroamerikanische Familie, von denen hatte die Schule die Telefonnummer. … Die kleine schwarze Beverly klopfte jeden Tag bei mir, ich habe sie schon immer vorher gehört, und dann habe ich gefragt: „Who is it?“ „It’s me! Beverly!“ Aha, jetzt will sie wieder naschen. Ich hatte immer einen Teller mit Süßigkeiten stehen. Das fand ich so süß damals.