ALLES FÜGT SICH - EINS IN DAS ANDERE Joachim Matthes, geboren 1942 in Magdeburg

„Ich möchte auch Oma oder Opa werden!“ Besser kann sich mein Interviewpartner Joachim Matthes nicht selbst charakterisieren Als ich ihm mitteile, dass ich ein Enkelkind bekomme, sagt er diesen Satz und er passt. Joachim erläutert: „Wenn ich einen Enkel bekäme, würde ich Opa, wäre es ein Mädchen, bin ich Oma!“ Neugier, unkonventionelles Denken, vielfältiges Interesse an aktuellen Strömungen und eine facettenreiche Andersartigkeit zeichnen ihn und sein Leben aus.

Vor mir steht ein achtundsiebzig jähriger Mann, der auf Grund seines besonderen Aussehens auf der Straße angesprochen wurde, für eine Fotoreportage über androgyne Menschen zu posieren. Lange, graue Haare bedecken die glänzenden Hängeohrringe, ein weißwuchernder Bart ziert sein Kinn. Eigentlich dachte ich, wir seien zu zweit verabredet, aber enttäuscht stelle ich aus den Augenwinkeln fest, dass am Tisch eine dritte, recht exotisch aussehende Person sitzt. Beim Betreten des Wohnzimmers merke ich, dass diese Dame keinen Unterleib hat und eine Schaufensterpuppe ist. Arrogant wie alle Schaufensterpuppen thront sie am Tisch und beansprucht einen der wenigen verfügbaren Plätze. Bei unserer fünften Begegnung wird sie eine lilafarbene Perücke tragen, und sich nahtlos in die vielfältige Einrichtung von Joachims Wohnung einfügen. Jedes Stück ist voller Geschichte und Erinnerungen. Neben sehr persönlichen Möbeln und Accessoires- eigene Sammlerstücke, Erbstücke seiner Mutter und gemeinsam genutzte Möbel aus der Wohnung seiner verstorbenen Lebensgefährtin Ingeborg – lagern auch überall für Bedürftige gesammelte Kleiderspenden und Flohmarktartikel. Joachim erzählt: „Ich umgebe mich gern mit diesen Sachen und möchte sie um mich haben, aber ich könnte sie auch verkaufen oder jemandem geben, der sie brauchen kann, dann kann ich mich trennen, aber einfach so entsorgen, das geht nicht.“ Voller Ironie sieht er sich selbst: „Wenn man solche Menschen und Wohnungen von außen sieht, denkt man manchmal, hier wohne ein Spinner, aber wenn man selber so lebt, empfindet man Wohlgefühl und Lebendigkeit zu den Menschen, an den sie einen erinnern.

Und er erinnert sich noch ganz detailliert an eine andere Zeit in seinem Leben, die so berührend und unglaublich ist – auch eine Fluchtgeschichte – aber der ganz anderen Art.

WENN MICH EINER UM HILFE BITTET, DANN HELFE ICH

Wo ist er mit diesem Lebensgrundsatz hereingeraten?

Als wäre seine Kindheit nicht schon aufregend, abenteuerlich, gefahrvoll und mühsam genug, musste es noch eine zweite Fluchtgeschichte sein? Die erste: 1942 in Magdeburg geboren als jüngster von sechs Brüdern. Die Familie wohnte in Crossen an der Oder, (der Vater war Standortkommandeur, in Holland eingesetzt) und floh während des zweiten Weltkrieges nach Magdeburg zu den Großeltern. Dann kehrte die Mutter mit den sechs Söhnen nach Crossen zurück und musste 1945, als die Rote Armee näher rückte, wieder flüchten. Doch bei den Großeltern konnten sie diesmal nicht unterkommen, der Großangriff auf Magdeburg hatte deren Häuser zerstört. Also machte sich die Mutter mit dem eigenen Auto, dem Kindermädchen Gerda und ihren sechs Söhnen, alle zwischen dreizehn und drei Jahren, auf den gefahrvollen und beschwerlichen Weg nach Hamburg. Sie landeten zunächst in der Nähe von Brandenburg / Havel und später in Hamburg – Bergedorf. Die Mutter musste die Kinder und sich alleine durchbringen, da der Vater in Gefangenschaft geraten und im März 1945 in einem Krankenhaus in Lemberg/Polen verstorben war. Die Mutter war eine erstaunliche Frau, die in den schlimmen Situationen ihres Lebens nicht „Probleme“ sah, sondern „Herausforderungen“, die sie mit Mut, Entschlossenheit und Gottes Hilfe annahm und zu meistern versuchte – fast immer erfolgreich.

Eine Maxime in Joachims Leben ist: Es gibt nichts im Leben ohne Sinn! Diese Überzeugung brauchte er, um die Ausnahmezeit seiner Verhaftung in Ostberlin, seine Zeit der Vernehmungen und seine Zeit im Zuchthaus Bautzen zu überleben. Wolf Biermann hat in einer Reportage auf NDR Info einmal gesagt, als er über die Zeit seiner Verfolgung sprach: „Ich weiß nicht, ob ich Bautzen überlebt hätte. Ich bin zwar ein bisschen frech, aber ein Held bin ich nicht. Ich liege lieber im Bett, als auf einer Holzpritsche und ich kaue lieber Brot als Nägel. Joachim hatte die Wahl nicht, aber er hat Bautzen überlebt, wenn auch mit schweren Hafttraumen und deren psychischen Folgen, bis hin zu Suizidversuchen und Einweisungen in die Psychiatrie. Wie konnte es überhaupt dazu kommen? Nüchtern und sachlich lässt sich der Vorgang kurz und knapp so darstellen: Im Jahre 1967 versuchte er, einem Bürger aus Potsdam zur Flucht in den Westen zu verhelfen. Die ganze Geschichte war aber von Beginn an vom DDR Staatssicherheitsdienst inszeniert. Er wurde 1967 verhaftet und wegen Fluchthilfe zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten Zuchthaus verurteilt. Im Juni 1969 wurde er freigekauft. Soweit die Fakten, aber menschlich gesehen war das später beschriebene für Joachim eine Tragödie, seine Hilfsbereitschaft wurde ausgenutzt, mit Füßen getreten und prasselte mit schlimmen Folgen auf ihn ein.

Nachdem er sich wieder einmal mit seiner Kontaktperson in Ostberlin getroffen hatte und ihm vieles verdächtig vorgekommen war, wurde er verhaftet. Die Kontrolle am Übergang Heinrich-Heine-Straße verlief zunächst völlig normal, man wünschte ihm eine gute Fahrt und er stieg euphorisch in sein Auto ein. Durfte das wahr sein, geschafft? Nein, es war leider nicht wahr, denn als er losfahren wollte, klopfte jemand an seine Scheibe: „Kommen Sie bitte mal raus, wir haben noch etwas zu klären!“ Joachim musste in einer völlig überhitzten Baracke lange warten, durfte seinen Mantel nicht ausziehen, und hatte das Gefühl, schon einmal weichgekocht zu werden. Ihm war glühend heiß vor Hitze und Angst. Nach einer Ewigkeit kam einer in die Baracke und brüllte: „ Sie sind verhaftet!“ Joachim spielt den Unschuldigen und fragt, was er denn verbrochen habe. Die Antwort war knapp: „ Das wissen Sie schon!“ Dann musste er sich mit zwei Schränken von Männern auf die Rückbank eines Autos quetschen und die Fahrt endete auf dem Hof des Potsdamer Stasigefängnisses. Joachims Auto war während der Wartezeit geholt und als Tatwerkzeug beschlagnahmt worden, was ihn später bei einer Vernehmung zu der Frage veranlasste, was passiert wäre, wenn er mit der U-Bahn nach Ost-Berlin gekommen wäre, wäre diese auch beschlagnahmt worden?

Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen, Joachim ist völlig durcheinander und weiß nicht, was er denken und fühlen soll. Joachim erinnert sich: „Vom Hof aus wurde ich in eine Zelle geführt und hinter mir schloss sich die Tür mit lautem „Klack – Klack“, noch heute höre ich das Geräusch manchmal im Traum.“ Er dachte, nein fühlte, hier kommst du nie wieder raus, niemals. Er suchte in der Zelle nach etwas Lebendigem, sei es eine Wanze, eine Motte, eine Fliege, weil es ihn an das Leben erinnern würde, aber er fand nichts in der völligen Dunkelheit. Die Tür würde nie wieder aufgehen, niemand würde ihn dort finden, alles ist zu Ende. Er ging in die Knie und betete.

Sein Glaube hat ihm im Leben immer Halt gegeben und die Kirche hat ihm später, Ende des Jahres 2011, sogar seine große Liebe beschert.