Kläre Langfeld: Auch wir waren Flüchtlinge

Geboren wurde Kläre Langfeld 1936 in Heikendorf (Schleswig Holstein).

Als ihr Vater, ein Marinesoldat, 1939 nach Ostpreußen versetzt wurde, zog die fünfköpfige Familie mit nach Neukuhren ins Samland. Kläre war da drei Jahre alt. Die beiden Brüder und die Schwester waren einige Jahre älter.

Für Kläre begann nun eine paradiesische Kindheit. In ihrer Erinnerung war sie zusammen mit anderen Kindern fast nur draußen in der weitläufigen Natur. Sie tobten über Felder bis an die Steilküste der Ostsee.

Bei schlechtem Wetter spielte sie mit ihrer Puppensammlung. Sie fühlte sich frei und unbeschwert. Noch heute denkt sie sehnsuchtsvoll an diese Zeit zurück.

Die Idylle bekam Risse, als die Familie aufgrund des Krieges auseinanderfiel. Die Brüder wurden eingezogen und konnten nur nach Hause kommen, wenn sie ein paar Tage Urlaub hatten. Das war selten. Noch während der Kriegszeit heiratete ein Bruder und gründete eine eigene Familie in Pommern. Der Vater verschwand für Jahre ganz aus Kläres Leben. Und auch die Schwester verließ das Elternhaus und zog zu der Schwägerin nach Pommern. So blieben Kläre und ihre Mutter allein in Neukuhren zurück.

Doch noch war das Kriegsgeschehen nicht in Kläres Welt angekommen. Aber im Januar 1945 wurde das inzwischen achtjährige Mädchen mit den Auswirkungen des Krieges direkt konfrontiert. Ihre Mutter weckte sie eines Nachts und sagte ihr, dass sie das Haus und Neukuhren verlassen müssten. Warm angezogen, nur mit einem Koffer und der Lieblingspuppe im Arm, startete sie in eine unbekannte Zukunft. Bei minus 25 Grad begann eine Flucht, die sie an den Rand ihrer Kräfte brachte und die sie ein ganzes Leben begleiten wird. In Gotenhafen versuchten sie, auf ein großes Schiff zu kommen, das sie nach Westen bringen sollte. Sie hatten Glück und fanden Platz auf der „Hansa“, einem Handelsschiff. Zunächst ging es noch einigermaßen geordnet an Bord, aber je mehr Menschen kamen, desto chaotischer wurde es. Viele Menschen wurden in die unteren Etagen verfrachtet. In der Nacht fuhren dann die „Hansa“ und auch einige andere Schiffe hinaus aufs Meer, Es war bitterkalt, große Eisschollen trieben auf dem Wasser.

Kläre Langfeld erzählte: Es begann eine tagelange Überfahrt entlang der pommerschen Küste. Die Verhältnisse an Bord wurden immer schlimmer. In den ersten Tagen konnten wir uns noch ein Brot an der Ausgabestelle holen, aber das war bald vorbei, Es waren zu viele Menschen an Bord. Die Luft wurde immer stickiger, es war eng und bald brach alles zusammen, denn in den wenigen Waschräumen waren sämtliche Abflussrohre verstopft, und es gab kein Wasser mehr. Der Gestank nach Fäkalien war einfach unbeschreiblich.

Insgesamt war die ganze Fahrt, die fast vier Wochen dauerte, für uns ein Albtraum. Es gab nur wenige Momente der Menschlichkeit. Die meiste Zeit hatte ich Angst vor einem Angriff von U-Booten, vor der rauen See und vor dem lauten Geräusch der Eisschollen an dem Schiff. Die entsetzlichen Zustände auf dem Schiff machten uns krank und schwach, Erst Ende Februar erreichten wir den Zielhafen Flensburg-Mürwick.

Als wir von Bord konnten, war ich so schwach, dass ich meine Puppe nicht mehr tragen konnte. Das übernahm ein Marinesoldat. Weiter ging es mit dem Zug nach Husum. Dort strandeten wir mit vielen anderen in einer Schule. Das Ziel meiner Mutter war es, nach Hamburg zu kommen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie wir weiter gekommen sind. Aber als wir in Winterhude durch die Flemingstraße gingen, wunderte ich mich über die vielen hohen Häuser. In einem dieser Häuser wohnte die Schwester meiner Mutter

Als wir dort ankamen, geschah ein kleines Wunder: Gerade als wir klingeln wollten, öffnete sich die Wohnungstür und mein Vater stand vor uns. Welch ein Wiedersehen! Auch er hatte überlebt. Bald erfuhren wir, dass auch meine beiden Brüder überlebt hatten. Mein älterer Bruder war allerdings am Hals schwer verletzt worden, aber er lebte. Was für ein großes Glück.

Vergessen habe ich das Erlebte nie. Die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat hat mich mein ganzes Leben begleitet. Jahrzehnte später haben meine Schwester und ich Ostpreußen zweimal besucht, Die Landschaft war noch unverändert schön, nur von unserem Leben dort war alles verschwunden.