Gerd Ulrich: Ich war ja damals noch ein großes Kind

Frauenburg in Ostpreußen, am 6. Februar 1945. 91 Tage vor der deutschen Kapitulation. Die Rote Armee ist auf dem Vormarsch. Hinter einer Hecke liegen etwa 20 gerade erst 17 gewordene und einige Tage vorher zur Wehrmacht eingezogene Jungen. Eine russische Granate explodiert vor der Hecke. Dreck spritzt in alle Richtungen. Gerd Ulrich zerfetzt es sein rechtes Auge. Er ist 17 Jahre, drei Monate und drei Tage alt. Nur er wird verletzt. Ein halbes Jahr bleibt er bis Kriegsende Soldat. Noch heute, im Juli 2017, kämpft der 90–Jährige mit dem Versorgungsamt Hamburgs um die Anerkennung dieser Kriegsverletzung.

Gerd Ulrich

Im März 2017 bejaht er meine Frage, ob ihm und seinen Altersgenossen die Nazizeit und Krieg ihre Jugend gestohlen haben.

Gerd Ulrich wird am 3. November 1927 unehelich in Stettin [polnisch Szczecin] geboren. Seine ersten drei Jahre lebt Gerd bei den Großeltern mütterlicherseits, was er als „eine angenehme Zeit“ erinnert. Seine Eltern heiraten, als Gerd Ulrich drei Jahre alt ist.

Die Eltern ziehen mit ihm nach Berlin als der Junge ungefähr vier Jahre alt ist, weil der Versicherungskaufmann befördert wird.

Die Ulrichs sind nun relativ wohlhabend, wohnen in Maraunenhof, einem gehobenen Stadtteil Königsbergs [jetzt das russische Kaliningrad]. Mit sechs Jahren wird Gerd eingeschult. Schläge mit dem Rohrstock waren damals in der Schule und zuhause sehr üblich.

Freude an der Schule hat er nicht, wo alles schon leicht militärisch zuging.

Am 4. Januar 1944, er ist 16, beginnt Gerd Ulrich zwangsläufig eine Ausbildung als Luftwaffenhelfer, wird einer Batterie in der Nähe von Königsberg zugeteilt.

„Wir haben auch geschossen, aber soweit ich weiß haben wir niemanden getroffen.“

Noch als Schüler wird Gerd Ulrich von der Wehrmacht eingezogen.

Anfang 1945 durchbricht die Rote Armee die deutsche Front in Masuren und die Granate zerfetzt sein Auge.

Gerd Ulrich Ende 1943 in Königsberg

Er kommt in einem Lazarettzug nach Celle, wo Artilleriefeuer schon zu hören ist. In Hamburg sagt sein Kompaniechef: „Hamburg hat sich ergeben, der Krieg ist für uns zu Ende, nehmt Euer Soldbuch, schreibt da hinein ‚aus der Wehrmacht entlassen, heute am 2. Mai‘, ich unterschreibe dann. Verkrümelt Euch, seht zu, wo ihr hin kommt, nach Hamburg, oder wer nicht aus Hamburg kommt, versteckt Euch irgendwo, damit Ihr nicht den Engländern in die Hände fallt‘“. Am 8. Mai 1945, der Tag der deutschen Kapitulation, ist Gerd Ulrich 17 Jahre und 181 Tage alt.

Ein Kamerad aus Schenefeld lädt ihn ein, bei ihm zu wohnen. Das ist auf halben Wege nach Bahrenfeld, wo die Mutter in einem von den Behörden zugewiesenen Zimmer wohnt. Gerd Ulrich nimmt an.

Am nächsten Vormittag erreichen sie Schenefeld. Inzwischen haben die Engländer Hamburg besetzt und dort die Macht übernommen. Sie verordnen vier Tage Ausgehverbot. Nach den vier Tagen gibt der Schenefelder Gerd Ulrich einen Anzug für den Weg zur Mutter. „Ich musste an englischen Posten vorbei, aber ich war ja in Zivil, die dachten, ich wär kein Soldat, haben mich durch gelassen“. Am nächsten Tag meldet er sich beim Ortsamt.

Gerd Ulrich am 16. Februar 1945

Einige Tage später zieht Gerd Ulrich seine Uniform an und geht nach Schenefeld, um dem Kameraden seine Zivilsachen zurück zu bringen. Auf dem Rückweg nach Bahrenfeld begegnen ihm englische Soldaten mit einem Lastwagen, auf dem uniformierte deutsche Soldaten stehen. Er überzeugt sie, dass er trotz Uniform kein Soldat ist und dass seine Einwohnermeldebestätigung eigentlich ein englischer Befehl sei, nach Hamburg zu gehen. Einige Tage später geht er wieder zum Ortsamt, um Lebensmittelmarken zu beantragen.

Es gibt eine Stammkarte, einem Personalausweis ähnlich, die vom Arbeitgeber gestempelt werden muss, um Lebensmittelmarken zu bekommen. Im Arbeitsamt sagt er, er sei Schüler und möchte seine Schulausbildung fortführen. Das ist nicht möglich, sagt man ihm, weil die Schulen geschlossen sind und es noch ein Jahr dauern kann, bis sie wieder öffnen.

„Im Oktober wurden sie dann doch eröffnet, aber das wusste man ja im Mai noch nicht. ‚Also‘, sagt die Vermittlerin, ‚Hamburg ist zerstört und muss wieder aufgebaut werden. Was wollen Sie werden?‘ Man suchte Maurer, Zimmermänner, Betonbauer, Dachdecker, vielleicht noch einige andere Berufe“. Er wählt Betonbauer.

Mehrere größere Firmen, bei denen er sich vorstellt, schicken ihn weg weil sie noch keine Aufträge haben. Gerd Ulrich findet eine kleine, die ihn als Betonbaulehrling einstellt.

Als im Oktober 1945 die Schulen wieder eröffnet werden ist Gerd Ulrich Lehrling. „Da konnte ich nicht so ohne weiteres ausscheiden“. Er findet heraus, dass es in Hamburg eine Abendoberschule gibt, mit Unterrichtszeit etwa von 17:30 Uhr bis 22 Uhr. Er meldet sich dort an.

Wie hat er ein tägliches 18–Stunden–Pensum von Bau und Schule geschafft? „Morgens um 7 Uhr begann der Dienst auf der Baustelle, ich lief zu Fuß von Bahrenfeld nach Altona, damals hat man gar nicht gemerkt, dass das ein weiter Weg war. Ich musste kurz nach 6 von zuhause weg gehen, entsprechend früh aufstehen. Bis 16 Uhr war Arbeitszeit, um 17 Uhr etwa musste ich in der Schule sein. Das ging mit der S–Bahn“.

Gerd Ulrichs Geburtstag am 1. September 2003

Damals war Hungersnot. In den Schulen gibt es warme Mahlzeiten, spendiert vom englischen Militär und schwedischen Bürgern. Obwohl die Abendoberschüler Erwachsene sind, kocht man auch ihnen eine dicke Suppe.

Es naht die Abiturprüfung. „Ich habe mit meinem Arbeitgeber vereinbart, meine Lehre ein halbes Jahr zu unterbrechen, um mich auf die Schule zu konzentrieren“.

Nach der Abiturprüfung macht er das letzte halbe Lehrjahr bis zur Facharbeiterprüfung. Auf dem Bau drängen ihn Kollegen, sich anzumelden, wenn er sich weiter bilden will. Er meldet sich bei der Bauschule an – „so genannt weil es in Hamburg noch keine Universität gab“.

Nach dem Studium 26 Jahre alt wird er als Bauingenieur von der Stülckenwerft angestellt, auf dem Gelände gegenüber den Landungsbrücken wo jetzt die Musical–Theater stehen.

Herr Ulrich bleibt dort ein Jahr. Dann macht man ihn darauf aufmerksam, dass wenn die Unfallverhütungsvorschriften streng befolgt würden, er als Einäugiger keine Baustelle betreten dürfe. „Da ich nur das linke Auge habe, sehe ich gar nicht was rechts von mir passiert.“

Herr Ulrich bewirbt sich bei der Strom- und Hafenbau- Behörde, heute die Hamburg Port Authority, wo er sofort anfangen kann. Er durchläuft alle Abteilungen, lernt die ganze Palette des Hafengeschehens kennen, besonders das, was vom Baulichen her gemanagt werden muss. Seine Karriere bekommt auch eine internationale Komponente. 25 Jahre prüft er die physikalische und chemische Eignung und Feuerresistenz von Hafen- und Schiffbaumaterialien. Ab 1982 wird er vom Verkehrsministerium zu den jährlichen Tagungen der International Maritime Organization [IMO, Internationale Seeschifffahrtsorganisation] der UNO in London delegiert. Herr Ulrich bleibt 35 Jahre bis zu seinem Berufsende bei der Hafenbehörde. Mit 62 Jahren und drei Monaten geht er in Pension.

Den Rest seiner Geschichte in Stichworten:

Heirat mit 25. Seine Frau stirbt 2000. Ein Sohn stirbt an den Folgen eines häuslichen Unfalls. Herr Ulrich unterstellt, dass die Klinik ihn falsch behandelt hat. 2001 heiratet er die Filipina Rosalina.

Was sind seine Freuden? Früher ist er viel gereist, was jetzt wegen Krankheit nicht mehr gut geht. Über ein Stück Torte freue ich mich, und wenn wir mal irgendwo eingeladen sind, in lebhafter Gesellschaft, wo man sich nett unterhalten kann, das ist erfreulich, oder wenn ich meine Mittagspause im Garten verbringe, mich in den Rollstuhl setze, über mir der blaue Himmel, dann bin ich high“.

Mit den Freunden aus der Schulzeit in Ostpreußen die noch übrig sind trifft er sich einmal im Jahr in Gotha. Neue Freunde fand er in der Abendschule, beim Ingenieursstudium und unter den Arbeitskollegen. Mit denen trifft er sich in einem Diskussionskreis alle 6 Wochen einmal „und dann klönen wir miteinander“.