Gerda Schwadke: Da hab ich noch einmal Glück gehabt

Gerda wuchs im ostpreußischen Szardeningken, einem Dorf in der Nähe von Goldap, auf. Sieben Kinder waren sie schon, als die Mutter bei der Geburt des achten Kindes starb. Gerda war damals 12 Jahre alt.

1942, also mit siebzehn Jahren, musste Gerda zum Arbeitsdienst. Sie hat für die Wehrmacht in Stablack (südlich von Königsberg) kleine Granaten gefüllt. Auch Gerdas Freundin Gertrud arbeitete in der Fabrik.

Ende Januar 1945 stand die russische Armee schon bei Königsberg. Sie beschossen auch Stablack. In der Stadt läuteten alle Kirchenglocken, um vor den anrückenden Soldaten zu warnen. Die Mädchen aus der Fabrik flohen. Einige liefen nach Hause, andere versuchten, weit weg zu kommen von der Front. Gerda und Tuti (Gertrud) flohen nach Norden. Gegen Mitternacht kamen sie zu einer Ortschaft am Haff und suchten eine Unterkunft in einer der Sommervillen. Doch die Wachen ließen sie nicht ins Haus, alles war reserviert für Soldaten. Schließlich fanden sie einen Platz im Spitzgiebel eines der Häuser. Gerda wollte bleiben, doch Tuti suchte weiter. Sie fand ein anderes Haus, wollte Gerda dorthin holen. Aber die war so müde, wollte nur noch schlafen, darum blieb die Freundin bei ihr. Das war ihr großes Glück, denn in der Nacht wurde das andere Haus durch Bomben zerstört.

Die jungen Frauen wollten, wie viele andere auch, über das gefrorene Haff zur Nehrung und weiter nach Danzig fliehen. Schreckliches erlebten sie unterwegs. Diese Bilder prägten sich ein in ihre Erinnerung.

Als die Mädchen endlich auf der Nehrung ankamen, fragte Tuti ganz verzweifelt, wie weit es wohl noch bis Danzig wäre. Weitere 50 Kilometer mussten sie noch laufen, eine unendlich lange Strecke. Um sich von der Erschöpfung abzulenken, haben die zwei jungen Frauen unterwegs auf der Straße lauthals gesungen „Wo der Mississippi fließt, wo das Kreuz des Südens ist …“ Andere Flüchtende wunderten sich sehr über diese singenden Mädchen.

Danzig war voller Menschen, Flüchtlinge aus vielen Teilen Ostpreußens waren dort. Auf der Suche nach einer Schlafgelegenheit klopften Gerda und Tuti an eine Haustür. Zwei Jungen von etwa acht und zehn Jahren öffneten, boten einen Platz an und ein bisschen Brot. Die Mädchen waren so ausgehungert und Tuti nahm von dem Brot, Gerda nicht. Sie schimpfte in der Nacht mit der Freundin, weil diese den Jungen, die wohl auch nicht viel hatten, das Brot wegaß.

Am nächsten Tag gingen die Freundinnen zum Hafen und hofften, auf einem der Schiffe einen Platz für die Überfahrt nach Westen zu bekommen. Doch die Schiffe waren schon voll mit verwundeten Soldaten, Frauen und Kindern. Es gab keinen Platz mehr für sie. Eines der Schiffe war die Wilhelm Gustloff, die wenig später - am 30. Januar - auf ihrer Reise von Torpedos getroffen wurde und mit den viel zu vielen Passagieren an Bord unterging. Nur wenige überlebten dieses Unglück. „Wieder Glück gehabt“ meinte Gerda, als sie mir später davon berichtet, „oder war es der siebte Sinn?“

Auf dem Rückweg vom Hafen kamen sie zu einem großen Platz in der Stadt. Ein deutscher Offizier informierte lautstark, dass er einen Zug organisiert hätte für die Bahnreise nach Berlin. Alle Mädchen und Frauen sollten schnell einsteigen und sich nicht um den Dreck in den Wagen kümmern. Gertrud wollte lieber auf den nächsten, vielleicht saubereren Zug warten, meinte, dass die Russen doch noch nicht so schnell kommen würden. Aber Gerda wollte diese Chance ergreifen und so stieg auch Tuti mit ein. Tatsächlich war dies der letzte Zug, der Danzig verließ. Eine Stunde später schon waren die russischen Soldaten in der Stadt.