Beklommen stehe ich still in einem total dunklen Eingang. Eine Gruppe von neun Menschen verschiedenen Alters befindet sich hinter mir. Worauf habe ich mich hier bloß eingelassen? Habe mich auch noch selber danach gedrängt, diesen Termin mit Herrn Rabe wahrzunehmen. Es ist so ruhig, dass man eine Stecknadel fallen hören kann. Wir alle halten einen Stock in der Hand, der ab jetzt unser Sehen durch Vorwärtstasten ersetzen soll. Mit der Zeit merke ich, dass die Ruhe mir gut tut. Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit. Eine fröhliche Frauenstimme namens Britta begrüßt uns und erklärt, dass sie selber blind ist und uns nun eineinhalb Stunden durch verschiedene Räume führen wird. Auweia, sie ist blind, wie soll das gehen? Aber ich vertraue mal darauf, dass wir hier wieder heil und ohne Blessuren rauskommen werden. Schließlich macht Britta diesen Job im Haus „Dialog im Dunkeln“* in Hamburg schon seit sechs Jahren und sie macht es zuverlässig und humorvoll. Nach jedem Verlassen eines Raumes fragt sie nach unseren Vornamen, damit keiner zurückbleibt. Wie schnell sie sich unsere Namen merken konnte, toll! Jeder Raum beinhaltet etwas anderes, wir sollen uns frei darin bewegen. Wir tapsen mit unseren Stöcken durch einen Park, hören das Glucksen eines Baches, Tierlaute und Vogelstimmen, gehen über eine Brücke, ertasten auf einem Markt verschiedene Gemüse- und Obstsorten, werden in eine Küche geführt, ich gehe dort immer an der Wand lang. Der Raum kommt mir sehr verwinkelt vor, ich habe Angst, mir den Kopf zu stoßen. Ich fühle an Herd, Kühlschrank und sonstigen Möbelstücken herum, zwischendurch rufe ich öfter ängstlich: „André, wo bist du?“ oder auch mal „Wo sind Sie?“ Ich bin froh, wenn ich seine Stimme höre.
Herrn André Rabe habe ich am 2016 bei einer unserer Lesungen im Blinden-und Sehbehinderten-Verein Hamburg e. V. im Louis-Braille-Center kennen gelernt. Er fiel mir sofort auf wegen seiner schwarzen lockigen Haare, seinem vollen Bart und seiner optimistischen und humorvollen Art.
Vor dem Schreiben dieses Interviews haben wir beide uns auf das Duzen geeinigt und darauf, dass wir uns beim Vornamen nennen
André ist von Geburt an blind. Er hat eine seltene Form von Retinitis Pigmentosa, einer Netzhaut-Degeneration. Das liegt im Erbgut, diese Diagnose erfuhr er erst 2015.
Er machte zu Beginn unserer Gespräche einen schönen Versprecher: „Ich bin von Geburt an blind, ich bin damit gewachsen.“
André möchte nicht auf seine Behinderung reduziert werden, sondern er weiß, dass er viel kann. Er war als Kind zusammen mit dem Bruder in dem bekannten Judoverein SC Concordia, hat schwimmen gelernt, den Fahrtenschwimmer gemacht und auch Preise gewonnen. Er war mit den Eltern und Verwandten jahrelang im FKK-Club und er ist auch geritten.
Mitleid ist das Schlimmste
André erzählt von Situationen, in denen Fremde ihn einfach anpacken und in den Wagen der U-Bahn drücken. „Einen Sehenden packt man doch auch nicht einfach an und schiebt ihn irgendwohin.“ Manche fassen, ohne zu fragen, den Stock an, um ihm zu helfen, was ihn dann verunsichert. „Was will der oder die?“ Oder er fragt Busfahrer, wohin der Bus fährt, und oft bekommt er die Antwort, dass es ja oben am Bus stehen würde. „Ja, deshalb frag ich ja, ich bin blind.“ Den Blindenstock hält er sichtbar in der Hand. Dann reagiert er verärgert über die Blindheit von uns Sehenden. Hier müssen beide Seiten voneinander lernen.
Da er oft bewusst barfuß durch die Gegend geht, bleiben Leute auch stehen und sagen ihm, dass er ja keine Schuhe an habe. „Meinen die, ich wäre doof?“
„Ich möchte selber entscheiden, wann ich Hilfe benötige. Man muss dann auch akzeptieren, wenn ich mal Hilfe ablehne.“
Ich hatte anfänglich etwas Scheu vor dem Gespräch mit André. Wie geht das mit einem Menschen, der mich nicht sehen kann? Ich habe ja noch nie so lange mit einem blinden Menschen sprechen können. Doch André ist solch eine natürliche Persönlichkeit, dass ich immer mutiger mit meinen Fragen wurde.
Danke, André, für dieses Interview, was mich viel gelehrt hat über dein tägliches Leben und meine Hürden im Kopf beseitigt hat. Ich hoffe, dass auch weitere sehende Menschen beim Lesen oder Zuhören ihre Hürden über behinderte Menschen im Kopf beseitigen können.