Meine Interviewpartnerin Liese Kilders ist in Böhmen, der damaligen Tschechoslowakei, aufgewachsen. Am 10. Juli 1945 wurde sie zusammen mit ihrer Mutter und dem ein Jahr älteren Bruder Heinz ausgewiesen. Innerhalb von 10 Minuten musste die Familie die wichtigsten Dinge zusammenraffen und wurde dann in einem offenen Güterzug quer durch Ostdeutschland transportiert. Nach vier Tagen landeten sie in Warnow, einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Dort verbrachten sie die ersten Monate zusammen mit anderen Vertriebenen in einer winzigen Kate. Aus dieser Zeit lese ich einen Textabschnitt vor.
Während dieser Zeit kamen eines Tages Russen, um Heinz und mich als Erntehelfer zu rekrutieren. Meiner Mutter wurde gesagt: „Du bist zu alt, die beiden sind jung!“ Man sperrte uns wochenlang in einen Keller. Morgens gab es eine Schnitte Brot und einen Becher Tee, dann mussten wir zur Feldarbeit antreten und bis zum Umfallen arbeiten. Einmal habe ich mich hingesetzt und gesagt: „Ich kann nicht mehr!“ Da hat mich ein Russe, der das nicht begriff, halbtot geprügelt. Später tat es ihm leid und er kam mit einem Essgeschirr zu mir. Zwei der gefangenen Landser, die sich mit der russischen Seele auskannten, meinten: „Pass auf, der will sich entschuldigen, indem er dir Suppe bringt.“ Ich entgegnete wutentbrannt: „Die kipp‘ ich ihm über den Schädel!“ Darauf die Landser: „Wag‘ es nicht! Dann landen wir alle in Sibirien. Du guckst ernst, aber freundlich, und sagst Dankeschön!“ Das habe ich dann auch brav gemacht. Er brachte mir die Suppe, steckte mir eine Zigarette in den Mund, drehte sich um und ging weg. Die Zigarette war ich gleich los: „Du bist noch viel zu jung zum Rauchen!“ und die Suppe haben wir uns geteilt. Man muss immer beide Seiten schildern: nicht nur, dass er mich verprügelt hat, sondern auch, dass er sich hinterher entschuldigt hat, indem er Suppe brachte und zu lächeln versuchte.
Als alle Felder abgeerntet waren, sagte man uns: „Ihr könnt nach Hause gehen!“ Nach Hause? Wo war das? Erst einmal gingen wir nach Schwerin zum Bahnhof und dort ereignete sich, was ich ‚Das Wunder von Schwerin‘ nenne. Leute, die wir trafen, fragten uns: „Sie gehören doch zur Familie Exler? Wir haben Ihre Mutter getroffen. Sie ist hier in Schwerin und spricht jeden an, ob er etwas von Ihnen gehört hat.“ Nun gibt es unseren sogenannten ‚Familienpfiff‘ und mit diesem Pfiff haben wir die Bahnhofshallen von Schwerin durchsucht. Tatsächlich kam unsere Mutter nach einiger Zeit freudestrahlend auf uns zu. Das gab ein Wiedersehen! Wir gingen nach Warnow in das Häuschen zurück, das meine Mutter inzwischen allein bewohnte. Erst einmal mussten wir uns von unserem Ernteeinsatz erholen und unsere Läuse loswerden.
Aufgeschrieben von Frauke Andresen