Arthur Zwintscher: Ich lasse mein Leben nicht für Hitler! Unser Leben beginnt doch erst. Arthur Zwintscher, geboren am 28.11.1927

Aufgewachsen bin ich bei meinen Großeltern. Meine Mutter ist bereits früh gestorben. Als ich fünf Jahre alt war, zogen wir nach Niendorf um. Hier baute uns mein Großvater ein Holzhaus. Vorher wohnten wir am Pferdemarkt, der Hamburger Dom war direkt gegenüber. Wenn das Volksfest beendet war, wurden die Buden abgerissen und die krummen Nägel weggeworfen. Die hat Opa dann gerade geklopft und für unseren Hausbau verwendet.

Mein Großvater hat Körbe erstellt aus Draht für Milchhandlungen und Gaststätten, außerdem Herzen und Karrees für die Blumenhändler, die haben sie dann dekoriert. In den Körben wurde die Milch in Flaschen ausgetragen, auch von meinen Onkels, die Radrennfahrer waren. Bis zum Krieg haben wir davon gelebt. Während des Krieges ist mein Großvater in einer Fabrik beschäftigt worden.

Im April 1934 wurde ich in Niendorf eingeschult. „Heil Hitler“ und das Deutschlandlied lernten wir als erstes. Einige Lehrer waren äußerst brutal wie dieser Englischlehrer, der sich immer auf die erste Bank setzte. Oft nahm er einen Griffelkasten und bewarf uns damit. Wenn er in die Klasse kam und wir ihm zu laut waren, mussten alle aufstehen und sich bücken, auch die Mädchen. Dann schlug er alle mit dem Rohrstock, Jungen und Mädchen.

Aber es gab auch andere, zum Beispiel unseren Musiklehrer. Den konnten wir so gut ärgern. Der Klassenraum war ganz oben unter dem Dach, und an den Seiten gab es Luken, die zum Boden führten. Die in der letzten Reihe hatten Nagel und Band an einer Holzlatte befestigt und erzeugten damit auf dem Dachboden Geräusche. Wir riefen aufgeregt: „Herr Lehrer, da ist jemand auf dem Boden.“ Wenn er ging um nachzusehen, verschwanden wir alle durch die Luken. Weg waren wir, die ganze Klasse.

Die Schule beendete ich mit 14 Jahren und begann meine Lehre in einer Maschinenfabrik. Das war nun eine ganz andere Geschichte. Vorher war man Kind, hat gespielt, und jetzt warst du erwachsen. Zum ersten Mal trug ich eine lange Hose. Bis dahin hatte ich nur kurze Hosen, Winter wie Sommer. Mit den langen Hosen warst du jetzt ein Mann. Die jungen Männer, die noch nicht zum Arbeitsdienst oder zur Wehrmacht eingezogen waren, trafen sich abends nach Feierabend am Niendorfer Marktplatz. Da gab es ein Gartenlokal, die Gaststätte „Zum Bäcker“. Ein Freund brachte ein Koffergrammophon und die englischen Schallplatten seines Vaters mit. Wir haben zwei Tische und Stühle geholt, das Grammophon aufgestellt und mit einer Kurbel aufgedreht. Das war mein erster Kontakt zum Swing. Was für eine Musik, dachte ich, kletterte auf den Tisch und habe dort rumgehottet und -gehopst.

Als Lehrlingsgeld bekam ich vier Reichsmark die Woche, nicht sehr viel, wenn man weggehen wollte. Oma hat mir dann noch drei, vier Mark dazugegeben. So bin ich zum ersten Mal losgezogen nach St. Pauli. St. Pauli rauf und runter, habe geguckt, was dort alles los ist. Unterhalb des Bismarckdenkmals war das Café Bismarck. Es waren viele junge Leute dort. Zunächst bekam ich ein bisschen Streit mit einem Jungen, weil ich sein Mädchen angeguckt hatte. Aber dann merkte ich, dass hier was anderes lief. Man sagte nicht „Heil Hitler“, sondern „Swing Heil“. Tolle Kapellen spielten Swingmusik. Wenn irgendein Uniformierter kam oder jemand mit Ledermantel, das war dann meistens die Gestapo, ging die Information rein zur Kapelle. Sie spielten dann leichte Weisen und Volkslieder, aber keinen Swing. Ein anderes Lokal war der Trichter. Von 16 bis 20 Uhr war Varieté. Die meisten Besucher waren Fronturlauber. Nach einer Stunde Pause gab es die große Bühnenshow. Da ging der große Samtvorhang auf für das Orchester Heinz Sandberg. Es begann immer mit der Trommel: bummm bumbum bummm bumbum, dann setzte Instrument für Instrument ein, zum Schluss spielten alle Musiker. Einfach Wahnsinn: 45 Mann Orchester Livemusik!

Auch damals gab es ein Jugendschutzgesetz. So war es Personen unter 18 Jahren verboten, sich nach Einbruch der Dunkelheit „herumzutreiben“. Deshalb haben wir uns auf der Empore aufgehalten. Eines Abends lauschte ich den Klängen meines geliebten Orchesters, als ein Mann im Ledermantel und einer in HJ-Uniform neben mir auftauchten und meinen Ausweis verlangten. Ich wurde zum Seitenausgang neben dem Operettenhaus rausgeführt. Dort war ich nicht allein. Links standen 20 Mädchen und rechts 20 Jungen. In einem großen Bus ging es dann zum Stadthaus zur Gestapo. Hier wurden die Personalien aufgenommen. Zu meiner Überraschung war ich dort bereits bekannt. Meine Strafe war Wochenendkarzer im Jugendgefängnis Bergedorf. Angetreten werden musste die Haft am Samstagnachmittag fünf Uhr. Sonntagnachmittags, zum Kaffee, standen plötzlich alle auf, liefen zum Fenster und sangen: „Bergedorf ist kein Zuchthaus, Bergedorf ist kein Sing-Sing*, Bergedorf ist Erholung für Hot und Swing!“ Aus 100 Kehlen in den hufeisenförmigen Hof des Gefängnisses – beeindruckend für uns Rebellen. Es war ein gutes Gefühl, so viele Gesinnungsfreunde zu haben und nicht allein zu sein. Montagfrüh wurden wir entlassen, um wieder zur Arbeit gehen zu können.

Da war ich noch sehr jung, 14, 15 Jahre alt. Ich hatte, wie üblich bei der Swing-Jugend, lange Haare und war immer schick gekleidet. Da hat meine Oma für gesorgt. Zur Hitlerjugend bin ich nicht mehr gegangen, obwohl es Pflicht war. 

Im Juni 1944, da war ich 16 Jahre alt, bekam ich ein Schreiben von der NS-Behörde. Ich sollte mich am Montag um 13 Uhr auf der Moorweide melden. Gründe wurden keine genannt. Auf der Moorweide waren schon sechs andere Jungen. Keiner wusste, was wir dort sollten. Drei HJ-Führer und zwei in Zivil von der Gestapo standen dort, darunter mein Fähnleinführer. Der kam nun zu mir und fasste mich vorne am Hemd: „Zwintscher, jetzt haben wir dich. Wir werden Dir mal den A…. aufreißen. Ihr kommt ins Lager.“ Wir haben uns angeguckt: „Lager, was meint der? Sollen wir in ein HJ-Lager?“ Von Konzentrationslagern und vom Jugend-KZ Moringen wussten wir nichts. Ich blickte über die Moorweide und sah meine Großmutter. Sie rannte zu den Männern mit einem Kuvert in der Hand und gab ihnen meine Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. Was war ich erleichtert: Ich konnte nach Hause gehen!

So kam ich Mitte Juni 1944 zum Reichsarbeitsdienst (RAD). Wieder trafen wir uns auf der Moorweide, 40 bis 50 junge Männer. Vom Dammtor-Bahnhof ging es mit dem Zug nach Pillau in Ostpreußen. In der Kaserne bewohnten jeweils acht Kameraden eine Stube. Unsere Uniformen erhielten wir in der Kleiderkammer. Ich hatte natürlich meine langen Haare. Ein paar Tage ging es gut. Dann hatten wir Unterricht am Waldesrand. Hinter mir saß der Feldmeister. Er rief mich raus. „Wie sehen Sie denn aus!“ Ich erhielt ein Streichholz mit dem Befehl, zum Friseur zu gehen und die Haare auf Streichholzlänge schneiden zu lassen. In der Stube bat ich einen Mitbewohner, mir die Haare zu schneiden. Danach meldete ich mich beim Feldmeister. Natürlich war ihm das nicht kurz genug, so sah kein militärischer Haarschnitt aus. Er fragte, wer das gemacht hat. „Ein Kamerad.“ „Ist der Friseur?“ „Weiß ich nicht.“ „Herholen. - Bist du Friseur?“ „Nein, Schlosser.“ „Na, dann Haarappell nächsten Morgen. Die ganze Einheit.“ Unten in der Wache war ich der Erste. Da haben sie mir dann die Haare geschnitten. Es blieb nur noch ein Streifen in der Mitte, wie bei einem Irokesen. Alles andere war weg. Auch allen anderen wurden die Haare gekürzt.

Sechs Wochen vergingen. Wir standen oben auf dem Boden und vertrieben uns die Zeit mit dem Absingen von Marschliedern. Da kam der Feldmeister und meinte: „Elektriker raustreten“. Sechs Mann traten vor. Ich stand in der ersten Reihe und sagte „Mensch, dazu hätte ich auch Lust.“ Der hinter mir gab mir einen Schubs und meinte: „Stell dich doch mit hin.“ Da stand ich nun als Siebter. Der Kamerad vor mir war kleiner und wurde wieder ins Glied zurück beordert. Gleich gab es auch den Marschbefehl: „Ihr packt heute noch eure Sachen, morgen früh werdet ihr abgeholt.“ Am nächsten Morgen ging es zum Hafen Pillau, da lag die ‚Robert Ley‘, ein ehemaliges KdF-Schiff. Ein Rettungsboot brachte uns auf eine kleine Insel mit einem Bunker der Küstenartillerie. Hier sollten wir Elektroinstallationen vornehmen. Ich gestand meinen Kumpels: „Ich bin kein Elektriker.“ Sie fanden eine andere Aufgabe für mich, ich sollte Löcher bohren. Damit ergänzten wir uns dann ausgezeichnet.

Einmal musste ich das Büro sauber machen: Fußboden feudeln und Staub wischen. Dabei sah ich mich dann um und entdeckte einen Kasten mit Blanko-Entlassungsscheinen. Ich weiß heute noch nicht warum, ich nahm vier Papiere raus, faltete sie zusammen und legte sie in die Brieftasche. Da vergaß ich sie, habe überhaupt nicht mehr daran gedacht.

Auf der Insel waren meine Haare wieder gewachsen. Wenn du entlassen wurdest, kam immer der Friseur und verpasste dir den Entlassungsschnitt. Wir kehrten aber erst abends zurück, da war der Friseur schon weg. So bin ich mit langen Haaren wieder nach Hause gekommen, wo man gleich spekulierte, dass ich gar nicht beim Reichsarbeitsdienst gewesen sei, denn sonst hätte ich keine langen Haare haben können.

Entlassen wurde ich im September 1944 und hatte vierzehn Tage Urlaub. Danach folgte mein nächster Einberufungsbefehl zur Panzergrenadier-Division Feldherrnhalle, ursprünglich ein Freiwilligenhaufen. Wir waren die ersten Gezogenen, einhundertfünfzehn Hamburger Jungs. Von Einhundertfünfzehn sind ganze Vier zurückgekommen. Alle anderen sind im Krieg geblieben.

Treffpunkt war mal wieder die Moorweide. Von dort ging es in die Kaserne nach Stuttgart-Kornwestheim. Gab es einen Auftrag für uns? Nein, wir mussten nur exerzieren, jeden Tag über den Acker. Wir hatten nicht einmal Karabiner, ganz im Gegensatz zum RAD. Dort hatten wir eine richtige vormilitärische Ausbildung bekommen mit Karabinern und mit 20-Kilometer-Marsch durch die Dünen. Danach waren wir fix und fertig, aber als junger Mann kannst du das ja gut aushalten. Wir haben auch gutes Essen bekommen. Zu jedem Teller Suppe gab es ein Stück Fleisch. So war das da, wirklich toll. Aber in Stuttgart gab es dreimal die Woche Pellkartoffeln mit Quark. Zuletzt haben wir mit dem Quark geworfen, der hing dann an der Wand. Wir mussten immer exerzieren, immer im Trainingszeug. Das war mir so zuwider.

Auch tagsüber drückten wir uns vom Dienst. Wir konnten durch die Keller zu den anderen Einheiten gelangen und spielten dort bis zum Dienstschluss Karten. Ich weiß nicht, ob der Spieß was gemerkt hat oder nichts merken wollte.

Ich hatte so richtig die Schnauze voll und sagte zu meinen Kumpels: „Ich mache den Quatsch nicht mehr mit. Ich lasse mein Leben nicht für Hitler! Unser Leben beginnt doch erst. Ich haue ab nach Frankreich, versuche da hinzukommen. Die Amerikaner sind schon in Frankreich.“ Paris war am 25.8.1944 von den Alliierten befreit worden. Drei Hamburger Freunde wollten mit. Am nächsten Abend sollte es losgehen. Wir hatten unsere Zivilkleidung noch nicht nach Hause geschickt. Um meinen Entschluss zu verdeutlichen, bin ich am nächsten Abend in Zivil mit meinen drei Kumpels in die Kantine gegangen. Da kam ein Offizier: „Warum bist du hier ohne Uniform?“ Ich antwortete, ich sei krank - die Lunge - und würde deshalb entlassen. Als er hörte, dass ich nach Hamburg zurückfuhr, wollte er mir ein Paket mitgeben. Natürlich erklärte ich mich zur Mitnahme bereit. Abgeholt habe ich es aber nicht, wir wollten ja noch am gleichen Abend abhauen. Mit Gesang ging es rüber in die Stube. Die drei zogen sich nun um. Dann sprangen wir hinten aus dem Fenster und liefen nach Ludwigsburg zum Bahnhof.

Damit waren wir desertiert. Die Konsequenzen waren uns nicht klar. Was würde passieren, wenn sie uns erwischen? Wir Jugendlichen haben uns keine Gedanken gemacht. Unsere Devise war: „Was kostet die Welt?“