Arno Friese: 100 Jahre Leben als Sonntagskind
Weil ich an einem Sonntag geboren bin, prophezeite mir meine Mutter: „Du wirst viel Glück haben in deinem Leben.“ Sie sollte Recht behalten. Ich bin am 11. August 1912 in Magdeburg auf dem Bauernhof meiner Großeltern geboren. Wahrscheinlich ein sonniger Tag. Mein Vater, von Beruf Drechsler, war Gewerkschaftssekretär bei der jetzigen IG Metall* und ein waschechter Sozialdemokrat. Wir, meine Schwester, mein Bruder und ich, hatten ein sehr schönes Zuhause und sehr liebevolle Eltern. Unsere Kleidung, damals hatte man noch nicht so viel, hat unsere Mutter selbst genäht und gestrickt. Mit fünf Jahren , 1917, wurde ich in Magdeburg eingeschult und nach vier Grundschuljahren wechselte ich zur Realschule.
Nach neun Jahren war die Schule beendet und ich begann am 1. April 1926 eine Lehre als Drucker und Schriftsetzer, genannt Schweizerdegen, in einer mittelgroßen Buchdruckerei in Bremen. Im selben Jahr trat ich in die SPD ein und bin dort immer noch Mitglied; jetzt seit 86 Jahren. Den Beruf wählte ich entsprechend meiner sozialdemokratischen Gesinnung. Die Drucker waren immer politisch links orientiert und sozialdemokratisch. „Gott grüß´ die Kunst“ – diese Worte hörte ich gleich am ersten Tag meines Berufslebens. Den Sinn dieses Grußes verstand ich erst später. Die Buchdrucker galten schon immer als besondere, eigenwillige Menschen. Sie hielten sich aus gewerkschaftlicher Sicht für die geistige Elite und standen an der Spitze der Lohnskala.
Um dem Militär zu entgehen, meldete ich mich beim Arbeitsdienst. Nach zwei Jahren war der Arbeitsdienst beendet. Der Offizier, der mich entlassen sollte, machte mir den Vorschlag, nach Hamburg zum Norddeutschen Lloyd, einer Reederei, zu gehen, wo ein Bruder von ihm arbeitete. Ich hatte Glück und konnte auf meinen zwei ersten Reisen als Moses auf einem Fahrgastschiff der Afrika-Linien anfangen. Auf der „Windhuk“ arbeitete ich als 2. Drucker.
Unsere 13. Reise begann an einem Freitag. Sie sollte nach Durban gehen. Am 26. August 1939, mittags, in Kapstadt passierte es: Plötzlich kam die Order von der Hafenbehörde, die Brennstoffübernahme zu stoppen. Der Ölschlauch, der das Schiff mit Schweröl versorgen sollte, wurde sofort abgenommen. Wir bekamen keinen Tropfen mehr. Wie sollten wir weiter nach Las Palmas kommen? Das Schiff brauchte 3000 Tonnen bis dort. Uns war klar, das bedeutete, der Krieg stand bevor. Die englischen Passagiere verließen das Schiff, es blieb noch eine österreichische Professorengruppe von 50 Personen. Um Mitternacht lief die „Windhuk“ bei voller Beleuchtung und mit dem von der Bordkapelle gespielten Deutschlandlied aus dem Hafen. Am Pier standen viele Menschen und sangen mit. Es war das letzte deutsche Schiff, das den Hafen verließ. Wir fuhren möglichst unbemerkt im Dunkeln auf dem Südatlantik, niemand von uns wusste, was jetzt werden sollte. Unsere weltbekannten Schornsteinfarben wurden übermalt und als ein englisches Schiff markiert – als „Castle Line“.
In der Nacht zum 1. September 1939 fiel dann die befürchtete Entscheidung: Krieg! Unsere Position war Höhe Angola und wir liefen sofort den kleinen Hafen Lobito an. Hier war neutrales portugiesisches Gebiet. Es lagen bereits vier deutsche Schiffe im Hafen. Bis zum 16. November 1939 blieben wir in Lobito. Es war in dieser sehr dunklen Nacht, als zwei Schiffe den Hafen verließen, um den Durchbruch zu wagen: die „Adolph Woermann“ und die „Windhuk“. ..... Wir gerieten in einen Sturm, der uns zwang, nicht den Kurs nordwärts zu nehmen. Die Schiffsleitung fasste den Plan, den Hafen Santos in Brasilien anzusteuern. In Brasilien, einem neutralen Land, wären wir sicher.
Es wurde eine lange Fahrt mit großen Umwegen. Im Radio hörten wir, das Passagierschiff „Windhuk“ sei im Südatlantik versenkt worden. Diese Meldung, die zum Glück falsch war, gab uns Sicherheit und wir fuhren weiter Richtung Südamerika. Inzwischen hatten wir das Schiff nochmal umgewandelt. Wir übermalten den grauen Schiffsrumpf komplett mit schwarzer Farbe und der Schornstein bekam die japanische Maru Marke. Am Heck wehte die japanische Flagge und unser Schiff hieß jetzt „Santos Maru“. An Bord herrschte eine außerordentliche Disziplin. Obwohl das Essen immer knapper wurde, murrte niemand. Morgens gab es nur Brot und Schmalz, mittags eine dünne Suppe und abends wieder Brot und Schmalz. Die Wachen wurden nun verstärkt und auch ich hatte von 8 bis 12 Uhr nachts Wache. Mit dem Nachtglas mussten wir das Meer bis zum Horizont absuchen, ob sich nicht irgendein Schiff näherte. Wenn ich dann mutterseelenallein an Bord war und auf das Meer schaute, dachte ich oft an mein Elternhaus. Was wohl mein Vater und meine Mutter jetzt machen? Sie machten sich wohl große Sorgen, denn sie wussten nichts über meinen Verbleib und unsere Schiffsroute. Dass die „Windhuk“ wohlbehalten in den neutralen Hafen von Santos eingelaufen war, erfuhren sie erst viel später per Telegramm.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, als wir wegen Mangels an Öl mit halber Kraft durch den Südatlantik fuhren. Es wurde merklich kälter, denn wir näherten uns der Eisgrenze. Zum ersten Mal sahen wir riesige Blauwale, die in aller Ruhe neben unserem Schiff schwammen und mit Getöse die Luft ausprusteten. Ich konnte mich gar nicht sattsehen. Aber es stellte sich ein neues Problem: Der Treibstoff ging langsam zur Neige und wir brauchten einen Hafen, wo wir Rohöl bekommen konnten. Der nächste Hafen war Bahia Blanca in Argentinien, also richteten wir den Kurs dahin. Eine Meldung von der „Admiral Graf Spee“, einem Panzerkreuzer der Deutschen Kriegsmarine, zwang uns den Kurs zu ändern. Wir sollten möglichst schnell einen neutralen Hafen anlaufen, so näherten wir uns der brasilianischen Küste. Nachts fuhren wir hell beleuchtet durch einen Konvoi von englischen Handelsschiffen, die auf dem Weg nach Europa waren. Die Engländer haben nichts gemerkt, obwohl die japanischen Schiffe nur einen Schornstein hatten, unser Schiff hatte aber zwei. Später lasen wir in einer brasilianischen Zeitung, dass die Engländer sich über den neuen japanischen Schiffstyp gewundert hätten. Da wussten sie noch nicht, welch ein großer Fisch ihnen durchs Netz gegangen war.
Morgens um fünf Uhr tauchten die Umrisse der südamerikanischen Küste auf. Endlich: Nach 21 Tagen Meer sahen wir wieder Land. Es dauerte noch fünf Stunden Fahrt an der Küste entlang, bis wir in den Hafen von Santos einliefen, unter den Klängen unserer Bordkapelle und mit der wieder aufgestellten deutschen Flagge. Ein wunderschöner Anblick: kilometerlange Badestrände, große Hotels und ein buntes Treiben. Am 7. Dezember 1939 um 9:30 Uhr fielen im Hafen von Santos, Brasilien, endlich die Anker.