Fachtagung Generationen gehen aufeinander zu Kleingruppe 4 Aus der Praxis für die Praxis - Praktische Überlegungen von Christel und Marianne
Guten Tag. Mein Name ist Marianne Laaksonen. Neben mir sitzt Christel Vierle. Wir sind von der Biografiewerkstatt der Kirchengemeinde Farmsen-Berne und möchten über unsere Arbeit berichten.
Die Biografiewerkstatt wurde 2004 gegründet unter dem Motto „Lebensringe sichtbar machen“. Als Form einer innovativen Seniorenarbeit sollte es jüngere Senioren anregen, auf hochbetagte Frauen und Männer zuzugehen. Ziel ist die „Kultur der Würdigung“, das heißt, das Leben der alten Menschen wertzuschätzen. Die jüngeren Senioren besuchen Menschen ihrer Elterngeneration, hören ihre Lebensgeschichten und schreiben diese Biografien auf. Das notwendige Rüstzeug für diese verantwortliche Aufgabe erhalten sie durch eine sorgfältige, zehnwöchige Schulung, unterstützt teilweise auch durch Referenten aus der Praxis. Mitbringen sollten die interessierten Frauen und Männer lediglich
Lust, ältere Menschen beim Aufspüren und Erzählen ihrer Lebensgeschichten zu unterstützen
Neugierde, neue Menschen und deren Lebenserzählungen kennen zu lernen
Interesse am Interviewen und Schreiben, ob erfahren oder unerfahren
Vier Stunden Zeit in der Woche.
Ziel dieser Schulung ist es, die Teilnehmenden vorzubereiten, ein Bewusstsein für die Biografiearbeit zu schaffen und ihnen für die kommenden Gespräche Sicherheit in die eigenen Fähigkeiten zu vermitteln. Gleichzeitig muss der ältere Mensch – die eigentliche Hauptperson des Projektes – mit seinen Reaktionen im Blick behalten werden.
Das Erzählen ihres Lebens hilft den älteren Frauen und Männern, mit Blick auf Gutes und Schweres, ihr Leben anzunehmen und manchmal mit Stolz auf ihre Lebensleistung zu blicken. Dadurch erhält das Leben für sie selber eine andere Bedeutung und nachfolgende Generationen erhalten Einblicke wie das Leben auch unter widrigsten Umständen weiterging.
Wichtig für die Mitglieder Gruppe ist eine Gesprächsbegleitung während der Gespräche mit den alten Menschen, um einen gewissen eigenen Schutz zu erhalten und die erlebten Gespräche verarbeiten zu können.
Die Biografiewerkstatt hat einen Leitfaden zur praktischen Durchführung mit vielen Praxisbeispielen erstellt, er heißt: „So starten Sie ein Biografieprojekt“. Das Buch kann bei uns bestellt werden und war schon manchen neuen Biografiewerkstätten in Hamburg und Umgebung sehr hilfreich bei den ersten Schritten.
Ich habe so ausführlich über die Schulung berichtet, weil sie eine sehr wichtige Grundlage für die Gespräche mit den älteren Menschen war und ist.
Tatsächlich haben wir in den letzten 20 Jahren 8 Bücher mit Lebensgeschichten herausgebracht. Die Themen haben sich natürlich geändert. Früher - und zum Teil auch heute noch - ging es um Erinnerungen an Kriegszeiten, um Flucht und Vertreibung. Heute erinnern die Frauen und Männer sich an die Nachkriegsjahre, aber ebenso an persönliche schwere Schicksale oder ungewöhnliche Begebenheiten. In dem 8. Buch, dass in diesem Jahr erschienen ist „Wir haben unser Leben in die Hand genommen“ geht es etwa um die Erinnerungen einer Frau, die 35 Jahre in der DDR und dann 35 Jahre in Westdeutschland gelebt hat. Sie vermittelt den Lesenden einen ganz anderen, persönlichen Eindruck, anders als viele Berichte in den üblichen Medien. Auch haben die Mitarbeitenden der Werkstatt für einige Bücher jüngere Menschen interviewt, die sehbehindert oder blind sind.
Vor drei Jahren – 2020 – begann kurz nach einer Schulung die Coronazeit mit den Kontaktsperren. Die neu geschulten Frauen und Männer hatten gerade die Adresse und Telefonnummer ihrer Erzählerinnen und Erzähler, als nichts mehr ging. Die älteren Menschen warteten gespannt oder ängstlich auf das erste angekündigte Treffen. Tatsächlich fand manche Begegnung auf einer Parkbank oder auf dem Balkon statt. Einige Interviews wurden fast nur telefonisch geführt. Da konnten wir merken, wie wichtig diese persönlichen Begegnungen sind.
Nachdem die Gespräche geführt wurden, kam die schwierige Zeit des Aufschreibens, des Digitalisierens. Die Autorinnen und Autoren unterstützten sich gegenseitig. Erst wenn die Geschichten von den Erzählerinnen oder den Erzählern autorisiert wurden, gehen sie mit den Abbildungen an die Layouterin. Diese gestaltet daraus das nächste Buch. Nach einer letzten Prüfung, dem Abschluss-Layout, wird die Buchvorlage an die Druckerei übermittelt.
Höhepunkte der in der Biografiewerkstatt sind die Buchpräsentationen. Sie finden in einem festlichen, öffentlichen Rahmen in unserer Kirche statt. Das Ereignis wird durch Plakate, kurze Texte im Gemeindebrief und der Wochenpresse angekündigt. In Anwesenheit der Erzählerinnen und Erzähler, ihrer Angehörigen und Freunde findet die Veranstaltung statt. Von jeder Biografie aus dem gerade erschienenen Buch wird ein kurzer Abschnitt vorgelesen, der oder die Erzähler/in erhält vom Autoren/der Autorin ein Buch und eine Rose überreicht und alle Menschen in der Kirche applaudieren. Das ist eine große Ehre für die jeweilige Person. Ein kurzes Musikstück führt über zur nächsten Biografie. So geht es weiter, bis aus allen Erinnerungen vorgetragen, alle Erzählerinnen und Erzähler gewürdigt wurden. Ein großartiger Abschluss unserer Arbeit.
Lesungen
Die Gespräche zwischen den Generationen sind mit dem Druck der Bücher nicht beendet. Die Werkstattmitglieder nehmen Kontakte auf zu Seniorengruppen oder auch anderen Veranstaltungen, lassen sich einladen zu Lesungen und Gesprächen. Viele ältere Frauen und Männer hören zu, erzählen aus eigenen Erinnerungen und bitten, dass wir mit unseren Büchern wiederkommen.
Natürlich würden wir gern unsere Texte auch jüngeren Generationen näherbringen, doch das ist schwierig. Ich erinnere eine Lesung vor Kindern der 11. Klasse, alle etwa 16 /17 Jahre alt: Es war die 4. Stunde nach einer Klassenarbeit zu biografischen Themen, die Jugendlichen waren unruhig. Ich lese aus den Erinnerungen von Erika K, und dass ihr Bruder, gerade 18 Jahre alt, zum Kriegsdienst eingezogen und schon am zweiten Tag erschossen wurde. Auch ihre älteren Brüder kamen später im Krieg ums Leben. Die Mädchen und Jungen im Klassenraum waren während dieser Textauszüge mucksmäuschenstill geworden. Die Lesung fand vor dem Krieg in der Ukraine statt. Heute flimmern täglich Bilder aus Kriegsgebieten über den Bildschirm. Vielen unserer Erzählerinnen ist es wichtig; dass es nie wieder Krieg geben soll!
Übrigens finanziert unsere Kirchengemeinde die Werkstattarbeit und trägt vor allem auch die Druckkosten. Diese Druckkosten versuchen wir durch den Verkauf der Bücher in Eigenregie ein Stück weit wieder hereinzubekommen, das heißt: wir haben Flyer über unsere Arbeit entworfen, stehen telefonisch oder per E-Mail für Bestellungen und Anfragen zur Verfügung, schreiben Rechnungen und bringen die Büchersendungen zur Post.
Im Moment steht unsere Gruppe vor der Frage, wie es weiter gehen soll mit unserer Arbeit. Manche von uns sind seit über 10 Jahren dabei, die Jüngsten kamen 2020 dazu. Wir überlegen, weitere Frauen und Männer für die Mitarbeit zu gewinnen. Dazu gab es letzte Woche eine Informationsveranstaltung für Interessentinnen. Ein Kommentar danach war: Ich wusste gar nicht, wie vielseitig eure Werkstatt ist und wie viel Arbeit dahintersteckt.
Jetzt folgen Beispiele aus der praktischen Arbeit:
Erste Begegnungen
Hannelore Schröter: Es passiert nicht einfach so, dass die Menschen uns ihr Leben anvertrauen, Mein allererstes Interview war ein Lehrstück zum Thema Vertrauen. Ich stand zum ersten Mal vor der Haustür meiner Interviewpartnerin und zögerte, auf die Klingel zu drücken, weil ich mich plötzlich fragte: Wie anmaßend ist es eigentlich zu erwarten, dass mir ein fremder Mensch seine Lebensgeschichte anvertraut? Ich wurde dann freundlich empfangen, wir richteten uns in der Veranda ein und das Interview begann. Meine Partnerin erzählte, ohne dass ich viele Fragen stellen musste.
Während der zweiten Sitzung hielt sie plötzlich inne, sah mich intensiv an und sagte mit Nachdruck: „Wenn ich kein Vertrauen zu Ihnen hätte, würde ich Ihnen das alles nicht erzählen“.
Gespräche
Lilo Schindler: Ich habe nicht erlebt, dass meine Interviewpartnerin so sehr von Schmerz überwältigt wurde, dass die Fortsetzung des Gesprächs nicht mehr möglich war. Als einmal die Stimmung zu kippen drohte, habe ich nach einer angemessenen Pause meine Aufmerksamkeit dem Teeservice zugewandt, mit dem Frau S den Tisch gedeckt hatte …
Jedes Treffen verlief anders, es gab ja nicht nur traurige Gespräche, es war durchaus auch lustig und oft sehr lebhaft. Trotzdem war ich immer darauf vorbereitet, mit Trauer konfrontiert zu werden.
Ula Nagel-Pedersen: Meine Interviewpartnerin war sehr erfreut über meinen ersten Anruf. Sie hatte schon darauf gewartet und hatte ein großes Bedürfnis, aus ihrem Leben zu erzählen und Geschehenes zu überdenken
Marianne Laaksonen: Ich erhielt einmal den Anruf von der Tochter eines früher Interviewten. Sie berichtete mir, dass ihre Mutter jetzt lange nach dem Tod ihres Mannes auch gern aus ihrem Leben erzählen möchte, um so die vergangenen Zeiten etwas zu verarbeiten.
Besondere Momente der Mitarbeit
Helga Müller: Einige Zeit nach meinem Berufsende suchte ich nach einer Anregung für eine neue Beschäftigung und geriet an die Biografiewerkstatt Farmen-Berne. Ich war begeistert von der Idee des Projektes, vom Engagement der seinerzeit hauptsächlich arbeitenden Organisatorinnen und schließlich von einer Schulung und Einführung in die Mitarbeit, an der ich teilnehmen durfte.
Auch wenn ich inzwischen nur „am Rande“ meine Teilnahme einbringen kann, nach Mitarbeit an einem Buch und mehreren Lesungen, so unterstütze und schätze ich diese Arbeit sehr und bin von der Sinnhaftigkeit dieser Tätigkeit ganz und gar überzeugt. Es ist eine so wunderbare Idee, dass nicht nur das Leben prominenter Persönlichkeiten beleuchtet wird, sondern eine Würdigung aller Menschen und deren Lebensschicksal…
Frauke Andresen: … Nachdem meine Kinder erwachsen waren und ich meine Berufstätigkeit beendet habe, begann ich in der Biografiewerkstatt mitzuarbeiten. Seit 10 Jahren bin ich jetzt dabei. Ich führe Interviews, arbeite in der Redaktion mit und nehme an Lesungen teil. Das macht mir viel Freude und ich bin immer wieder fasziniert, mit wieviel Kraft, Hoffnung und Zuversicht unsere Interviewpartnerinnen/ – Interviewpartner ihr Leben in die Hand genommen haben.
Ditha Günther: Geschichte/Zeitgeschichte nicht nur in Theorien aus Büchern zu lesen und zu erfahren, sondern sozusagen „live“ durch gelebte, erlittene, erfahrene Lebens-/Zeitgeschichte nacherleben zu können. Das ist ein besonderes Moment, das mich bei beiden Büchern nachhaltig bewegt hat.
Britt Giese: Einige Gruppenmitglieder sind schon sehr lange dabei und immer noch mit ganzem Herzen. Die Menschen, die interviewt werden, zeigen sehr viel Mut, indem sie uns in ihr Leben schauen lassen. Meine Interviewpartnerin hält immer noch Kontakt mit mir, weil sie sich durch das Interview mit mir verbunden fühlt.